Schadensersatz Nachforderung trotz Abfindungsvergleichs

 Schadensersatznachforderung trotz umfassenden Abfindungsvergleichs

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Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht 

Aktenzeichen 4 U 158/98

Urteil vom 30. August 2000

Vorinstanz: LG Flensburg 7 O 268/87 

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Leitsätze:

1.Ein Abfindungsvergleich kann dem Einwand der unzulässigen Rechtsauübung ausgesetzt sein, wenn sich nach dem Auftreten unvorhergesehener Spätfolgen ein krasses Mißverhältnis zwischen Vergleichssumme und Schaden ergibt.

2.Die Frage unvorhergesehener Spätfolgen ist nach dem maßgeblichen normativen Standard verständiger und redlicher Vertragspartner zu beurteilen.

3.Bei der Entscheidung zur berechtigten Höhe einer Nachforderung ist zum einen der bereits geleistete Schadensersatz zu berücksichtigen und zum anderen, daß der weitere Ausgleich nur zwecks Vermeidung eines krassen Mißverhältnisses zwischen Vergleichssumme und Schaden geboten ist.

Gesetzliche Vorschriften:

BGB §§ 242, 831 I, 847 I, 852 I.

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In dem Rechtsstreit der G, Beklagten und Berufungsklägerin, g e g e n Frau T, Klägerin und Berufungsbeklagte wegen Haftung aufgrund ärztlicher Heilbehandlung hat der 4. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig auf die mündliche Verhandlung vom 22.03.2000 für Recht erkannt:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 28.07.1998 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Flensburg teilweise geändert und insgesamt wie folgt neu gefaßt:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu zahlen 125.000,00 DM nebst 4 % Zinsen ab 11.06.1998.

Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen; die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 135.000,00 DM abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Der Wert der Beschwer beträgt für die Klägerin und die Beklagte jeweils über 60.000,00 DM.

Tatbestand:

Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Ersatz von materiellem und immateriellem Schaden ab 05/1993 in Anspruch, den sie auf 1957 unterlaufene Behandlungsfehler im Krankenhaus der Beklagten zurückführt.

I.1.Die am 17.05.1943 geborene Klägerin wurde vom 04.11. bis 06.12.1957 wegen Meningitis im S-Hospital, in dem ihre Mutter als Nachtschwester beschäftigt war, stationär behandelt. In diesem Zeitraum erhielten die Handrücken der Klägerin wegen Warzenbildung 5 x eine Röntgenbestrahlung, wodurch es jedoch zu erheblichen Verbrennungen an beiden Händen kam. Deshalb schloß sich vom 17. bis 28.12.1957 eine weitere stationäre Behandlung wegen der bestrahlten Hände an.

In 11/1958 erfolgte eine Untersuchung der Hände in der Universitäts-Hautklinik Kiel durch Prof. Dr. P. Es wurde eine Röntgenverschwielung der Haut beider Handrücken mit Narben, Pigmentverschiebung, Nagelwachstumsstörungen sowie sklerosierenden Prozessen im Unterhautbindegewebe sowie im Sehnen- und Bänderapparat der Handgelenkstreckseiten festgestellt (vgl. Bl. 25 f). Mit (Anwalts-)Schreiben vom 10.03.1959 teilte die Klägerin der Haftpflichtversicherung der Beklagten mit: die bereits ein Jahr nach der Röntgenstrahlenapplikation festzustellenden schweren Veränderungen stellten nach einer gutachtlichen Stellungnahme von Prof. Dr. P erst den Beginn einer langsam fortschreitenden Strahlenschädigung dar (vgl. Anl. Bl. 16).

Durch Schriftwechsel vom 11.08. bzw. 22.08.1959 zwischen der Anwältin der Klägerin und der Haftpflichtversicherung der Beklagten (Anl. Bl. 35 ff) kam es zu einem Zwischenvergleich. Danach sollten durch Zahlung von 5.000,00 DM alle – auch zukünftigen – Ansprüche auf Schmerzensgeld und ferner der bis 31.12.1959 entstandene materielle Schaden abgegolten sein. Spätestens in 07/1960 sollte eine erneute fachärztliche Untersuchung der Klägerin stattfinden, an die sich weitere Verhandlungen über etwaige Schäden anschließen sollten.

Am 04.10.1961 erstattete dementsprechend Prof. Dr. Dr. K (Universitäts-Hautklinik Hamburg-Eppendorf) nach einer Untersuchung der Klägerin ein hautfachärztliches Gutachten, das u. a. feststellte (Bl. 24 ff): Die rechte Hand könne nicht zur Faust geschlossen werden; der linke Zeigefinger stehe ab (Versteifung). Wachstumsstörungen bestünden offenbar nicht. Die Klägerin habe Schwierigkeiten beim An- und Auskleiden, Schuhe schnüren und Tragen schwerer Gegenstände. Eine Besserung des Zustandes durch konservative Maßnahmen sei nicht zu erwarten; eine Verschlechterung hingegen sei möglich. Relativ geringfügige Verletzungen der atrophischen Haut könnten schlecht heilende Geschwüre im Sinne eines Spätschadens zur Folge haben. Die schließliche Ausbildung eines Strahlenkrebses sei trotz des jugendlichen Alters unwahrscheinlich, wenn auch nicht völlig ausgeschlossen. Es bestünden zur Zeit weder Geschwüre noch Verhornungen als Vorstufen eines Strahlenkrebses.

Mit (Anwalts-)Schreiben vom 28.08.1962 teilte die Klägerin der Haftpflichtversicherung der Beklagten u. a. mit (Bl. 64 f): Sie sei als Gymnastiklehrerin beschäftigt und könne nach den bisherigen Erfahrungen auf Dauer ihren erlernten Beruf ausüben. Eine Besserung der Gebrauchsfähigkeit ihrer Hände sei allerdings nicht festzustellen. Als dauernder Schaden erwüchsen ihr erhöhte Aufwendungen durch die tägliche Inanspruchnahme fremder Hilfe für persönliche Betreuung und wegen des vermehrten Bedarfs an Hautpflegemitteln von monatlich insgesamt 150,00 DM. – Ergänzend berichtete sie mit Schreiben vom 02.10.1962 (Anl. Bl. 101 f): Sie werde nicht mehr betreut, habe aber ihrer Hände wegen Mehrkosten für Essen, Wäsche, Frisör und Hautpflegemittel von monatlich insgesamt 170,00 DM.

Durch Schriftwechsel vom 05.10. bzw. 30.10.1962 zwischen der Anwältin der Klägerin und der Haftpflichtversicherung der Beklagten (Bl. 29 ff) wurde ein Abfindungsvergleich geschlossen. Darin erklärten die Klägerin und ihre Mutter u. a. (Bl. 70):

Wir verzichten gegen Empfang einer einmaligen Entschädigung von 25.000,00 DM … auf alle Ansprüche jeder Art aus diesem Schadensereignis gegen S-Hospital und jeden Dritten, selbst wenn sich künftig andere, auch unerwartete, als bis jetzt bekannte Folgen ergeben sollten, und erklären uns vollständig und vorbehaltlos abgefunden.

2.Ihre Tätigkeit als Gymnastiklehrerin führte die Klägerin auch nach ihrer 1967 erfolgten Eheschließung bis 1970 fort. Alsdann widmete sie sich der Betreuung ihres Sohnes, übte aber weiterhin auch Aktivitäten im Sport aus. – Mit (Anwalts-)Schreiben vom 19.01.1973 machte sie freilich gegenüber der Haftpflichtversicherung der Beklagten geltend (Bl. 203 f): Der Zustand ihrer Hände habe sich bedauerlicherweise derart verschlechtert, daß sie sie heute kaum noch gebrauchen könne. Die meisten Gelenke seien versteift; ständig entstünden eitrige Wunden. Die nicht vorhersehbare negative Veränderung der verletzten Hände lasse ein Wiederaufgreifen der Angelegenheit geboten sein.

Vom 31.01. bis 28.03.1977 wurde die Klägerin wegen einer Achillessehnenverletzung in der Diakonissenanstalt Flensburg stationär behandelt. Nach einer am 23.02.1977 durchgeführten röntgenologischen Untersuchung der Hände, wonach bereits spitzwinkelige Beugekontrakturen in den Mittelgelenken der Finger II bis IV beiderseits bestanden (vgl. Bl. 32 und 161 f), erfolgte am 28.02.1977 eine Arthrodese (Versteifung) eines Fingers (Mittel- oder Zeigefingers) der rechten Hand vermittels einer Schraube wegen einer erheblichen Schädigung der Strecksehne sowie des Mittelgelenks (vgl. Bl. 120). Die Schraube wurde – nach Aussage des behandelnden Arztes, des Zeugen Dr. T, vor dem Landgericht (Bl. 198) – am 25.10.1978 wieder entfernt.

(Bereits) ab 1980 mußte die Klägerin – nach Aussage ihres Ehemannes vor dem Landgericht (am 29.01.1991: vgl. Bl. 196 ff) – ihre sportlichen Aktivitäten, nämlich Turnen und Volleyball, die sie freilich nur noch als Übungsleiterin hatte ausüben können, zunehmend aufgeben. Demgegenüber hat sie selbst bei ihrer Anhörung durch den Senat (am 22.03.2000) behauptet, sie sei noch bis 1993 als Übungsleiterin (für Gymnastik und Schwimmen) tätig gewesen (Bl. 533 f). Nach eigenen wie auch den Angaben ihres Ehemanns vermochte sie noch bis Ende 1984 die alltäglichen Verrichtungen im Haushalt selbst auszuführen (vgl. Bl. 197, 199).

Vom 26.09.1985 bis 04.01.1986 wurde die Klägerin ihrer Hände wegen in der Diakonissenanstalt Flensburg ambulant behandelt (vgl. Bl. 33 f, 121, 151 f und 199), und zwar zunächst wegen einer plötzlichen Verschlimmerung des 4. Fingers rechts infolge einer Beugekontraktur von 180° (sog. Summation der Gelenke). Am 16.10.1985 erfolgte eine Versteifung des Mittelgelenks des 4. Fingers rechts, am 18.12.1985 die des Mittelgelenks des Mittelfingers. Wegen Wundinfektionen mußten die Schrauben teilweise frühzeitig entfernt werden.

Mit (Anwalts-)Schreiben vom 06.01.1986 machte die Klägerin neue Schadensersatzansprüche gegenüber der Haftpflichtversicherung der Beklagten geltend. In einem von dieser eingeholten Arztbericht der Diakonissenanstalt vom 25.06.1987 heißt es (Bl. 35): Der Dauerschaden, verursacht allein durch die Röntgenbestrahlung, bestehe in einer Versteifung sämtlicher Fingermittelgelenke sowie einer Minusvariante beider Hände. Weiterhin müsse auch an eine mögliche Entartung des Knochen- oder Hautgewebes aufgrund der Röntgenbestrahlung in späterer Zeit gedacht werden. Therapeutisch könne nur eine Versteifung weiterer Fingergelenke in Funktionsstellung erreicht werden.

II. 1.Seit Erhebung der Klage in 12/1987 streiten die Parteien im wesent- lichen darüber, ob die Beklagte trotz des Abfindungsvergleichs vom 05./30.10.1962 zur Leistung weiteren Schadensersatzes verpflichtet ist.

Die Klägerin hat im wesentlichen vorgetragen: Die 1957 durchgeführte Röntgenbestrahlung ihrer Hände sei ohne Aufklärung und ohne Zustimmung ihrer Mutter erfolgt. Sie sei auch fehlerhaft durchgeführt worden, wie sich schon aus dem Ausmaß der verursachten Verbrennungen ergebe. Weiteren Ansprüchen auf Schadensersatz wegen der erforderlichen Hilfe für Haushalt und persönliche Verrichtungen sowie wegen der erlittenen Schmerzen und Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität stehe der Abfindungsvergleich von 1962 nicht entgegen. Zum einen sei er mangels Zustimmung ihres Vaters nicht wirksam geworden. Zum anderen sei er dem Einwand der unzulässigen Rechtsausübung ausgesetzt, weil sich nach dem Auftreten nicht vorhergesehener Spätfolgen ein krasses Mißverhältnis zwischen der Vergleichssumme und ihrem Schaden ergeben habe.

Die Klägerin hat beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an sie zu zahlen a)ab 01/1986 eine monatliche Schadensrente von

1.230,33 DM (nebst 4 % Zinsen ab Rechtshängigkeit) b)ein angemessenes Schmerzensgeld von mindestens

35.000,00 DM wegen der seit 1985 eingetretenen Folgen der Röntgenstrahlenverbrennungen für den Sehnen- und Knochenapparat beider Hände

2. festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, ihr alle zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden, die als Folge der Röntgenbestrahlung beider Hände an Knochen-, Gelenk- und Sehnenapparat der Hände bzw. Arme noch entstehen werden, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf öffentliche Versicherungsträger übergegangen sind.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat Behandlungsfehler bei der Röntgenbehandlung der Klägerin bestritten, sich auf den 1962 geschlossenen Abfindungsvergleich berufen und die Einrede der Verjährung erhoben.

2.Das Landgericht hat dazu, ob der Klägerin bereits vor dem 01.12.1984 bzw. 09.05.1983 erkennbar war, daß die 1957 erlittene Röntgenverbrennung über Hautbeeinträchtigungen hinaus weitergehend zu einer deutlichen Schädigung des Bänder- und Sehnenapparates sowie des Knochenbaus ihrer Hände, insbesondere der Mittelgelenke ihrer Finger geführt hatte, Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens, erstattet unter dem 25.10.1989 von dem Orthopäden Prof. Dr. H (vgl. Bl. 126, 144 und 154 ff). Desweiteren hat das Landgericht den Sachverständigen ergänzend angehört und den Ehemann der Klägerin sowie den (Hand-)Chirurgen Dr. T als Zeugen vernommen (vgl. Bl. 193 ff).

Durch das Teil-Urteil vom 26.02.1991, auf das wegen sämtlicher weiterer Einzelheiten verwiesen wird, hat das Landgericht die Klage auf Schmerzensgeld abgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Dem Anspruch, gestützt auf §§ 823 Abs. 1, 847 Abs. 1, 831 Abs. bzw. 31 BGB, stehe die erhobene Einrede der Verjährung (§§ 852 Abs. 1, 222 Abs. 1 BGB) entgegen. Die Frist von drei Jahren habe mit der Kenntnis der Klägerin vom geltend gemachten Spätschaden begonnen, d. h. von dem Zeitpunkt an, zu dem es für sie offensichtlich gewesen sei, daß über Hautverbrennungen hinaus Beeinträchtigungen des Bänder- und Sehnenapparates sowie des Knochenbaus aufgetreten seien. Davon habe sie sichere Kenntnis spätestens mit dem Auftreten von Beugekontrakturen gehabt, die bereits in 02/1977 an den Mittelgelenken der Finger II bis IV vorgelegen hätten. Das ergebe sich aus dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. H wie auch der Aussage des sachverständigen Zeugen Dr. T.

3.Mit ihrer Berufung hat die Klägerin den Anspruch auf ein Schmerzensgeld weiterverfolgt in Höhe von 5.000,00 DM.

Durch Urteil vom 26.05.1993, auf das wiederum wegen zusätzlicher Einzelheiten Bezug genommen wird, hat der Senat die Berufung zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Die Fragen, ob 1957 bei der Klägerin die Röntgenbestrahlung der Handrücken ohne Aufklärung und Zustimmung der Mutter erfolgt und dabei fehlerhaft eine zu starke Strahlendosis verabreicht worden sei, könnten dahingestellt bleiben. Dem eingeklagten Schmerzensgeldanspruch stünde nämlich der 1962 geschlossene Abfindungsvergleich entgegen, im übrigen auch die Einrede der Verjährung. Die umfassende Tragweite des Vergleichs, die sich aus seinem Wortlaut wie auch dessen damaligen Verständnis durch die Parteien ergebe, erstrecke sich auch auf die gravierenden Verschlechterungen des Knochen-, Gelenk- und Sehnenapparates der Hände, wie sie seit 1985 leider eingetreten seien. Der Vergleich ermangele auch nicht wegen der fehlenden Mitwirkung des Vaters der – damals noch minderjährigen – Klägerin der Wirksamkeit. Schließlich verstoße das Festhalten an der Vereinbarung auch nicht als unzulässige Rechtsausübung gegen Treu und Glauben, indem sich zwischen Abfindung und Schaden ein krasses Mißverhältnis wegen unvorhergesehener Folgen einer Schädigung ergebe. Das treffe bei der Klägerin trotz der bedauerlichen Entwicklung jedoch (bislang) nicht zu. Im übrigen stehe dem eingeklagten Schmerzensgeld – mit dem Landgericht – auch die Einrede der Verjährung (§§ 852 Abs. 1, 222 Abs. 1 BGB) entgegen.

III.1.Ab 1993 verschlechterte sich bei der Klägerin der Zustand ihrer Hän- de weiter, so daß sie sich in die Behandlung des Handchirurgen Prof. Dr. P begab, hernach vom Landgericht zum Sachverständigen bestellt. Den Angaben in seinem Gutachten vom 03.03.1998 zufolge stellte sich der Verlauf im wesentlichen wie folgt dar (vgl. Bl. 392 ff, 395 ff):

Am 27.09.1993 bei der ersten Vorstellung der Klägerin zeigten sich an ihren beiden verschmächtigten Händen in weiten Bereichen instabile Narbenverhältnisse. Beide Zeigefinger befanden sich in einer erheblichen Rotationsfehlstellung. Sämtliche Langfinger waren von einer erheblichen Bewegungseinschränkung betroffen. Der Faustschluß beiderseits war erheblich behindert. Sämtliche Greifformen waren an beiden Händen erheblich beeinträchtigt. Rechts zeigten bei den Langfingern III bis V sämtliche Mittel- und Endgelenke erhebliche Deformierungen und waren zum Teil eingesteift; links waren bei den Langfingern II bis IV sämtliche Mittel- und Endgelenke zerstört.

Von 09/1993 bis 09/1997 befand sich die Klägerin insgesamt 10 x zur stationären Behandlung durch den Sachverständigen im Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus Hamburg, die durchschnittlich zwei bis drei Wochen in Anspruch nahm (von einer Woche über zehn Tage bis zu fast zwei Monaten). Dabei wurden vor allem immer wieder verstrahlte Hautareale abgetragen und durch ausgedehnte Hauttransplantate (vom Unterarm und Oberschenkel) ersetzt. Desweiteren erfolgten auch Amputationen und Versteifungen von Fingern, und zwar am 12.10.1992: Resektion des II. Strahles rechts und Arthrodese der Mittelgelenke der Finger III und IV links 09.12.1992: erneute Versteifung des Mittelgelenks des Ringfingers links und unter Knochenverkürzung 12.01.1995: Versteifung des Grundgelenks des Fingers III rechts 09.09.1997: Entfernung des II. Strahles links mit Handverschmälerung.

Am 29.09.1997 bei der (seinerzeit) letzten ambulanten Kontrolluntersuchung hatte sich dem Sachverständigen zufolge (Bl. 405 f) im Vergleich zu 1993 der Zustand beider Hände weiter verschlechtert. Zwischenzeitlich waren die Zeigefingerstrahlen beidseits im Mittelhandknochenbereich amputiert worden. Die Gelenke der Langfinger III bis V waren zum Teil eingesteift, zum Teil künstlich versteift. Die Greifformen, wie Haken-, Grob- und Schlüsselgriff, waren erheblich behindert; nur ein Spitzgriff zwischen Daumen und Langfinger war möglich. Der Faustschluß und die Streckung der restlichen Langfinger waren durch die Ein- und Versteifung der Gelenke ebenfalls erheblich behindert, die grobe Kraft war deutlich abgeschwächt. Insgesamt vermochten beide Hände trotz guter bzw. stabiler Weichteilbedeckung (vgl. auch Bl. 533) nur noch „Restfunktionen“ wahrzunehmen.

2.Die Klägerin nimmt die Beklagte im Hinblick auf das Urteil des Senats vom 26.05.1993 nunmehr erst ab 05/1993 auf Ersatz ihres materiellen Schadens sowie auf ein Schmerzensgeld in Anspruch.

Dazu hat sie im wesentlichen vorgetragen: Seither habe sich ihre Situation dramatisch verschlechtert, wie die Angaben im Gutachten des Sachverständigen belegten. Wegen der – teilweise offenen – Wunden, die äußerst schlecht verheilt seien und permanent geschmerzt hätten, sei sie ständig auf Schmerzmittel und Antibiotika angewiesen gewesen. Inzwischen seien ihre Hände kaum noch gebrauchsfähig. Dadurch sei es ihr zunehmend unmöglich geworden, alltägliche Verrichtungen im Haushalt allein auszuführen, so daß sie ständig auf Hilfe Dritter, insbesondere ihres Ehemanns, angewiesen sei. Den Ausfall ihrer häuslichen Arbeitsleistung bringe sie (im Ausgangspunkt berechnet nach 22,38 Stunden BAT VIII: vgl. Bl. 428 ff) mit monatlich 1.400,00 DM in Ansatz. Besonders belastend für sie sei, daß die Möglichkeit einer völligen Gebrauchsunfähigkeit wie auch der Amputation einer oder beider Hände zu besorgen sei.

Die Klägerin hat – unter Rücknahme der weitergehenden Klage – beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an sie zu zahlen a)für 05/1993 bis 07/1998 insgesamt 88.200,00 DM nebst 4 % Zinsen ab Rechtshängigkeit b)ab 08/1998 monatlich 1.400,00 DM

2. ein angemessenes Schmerzensgeld, jedoch mindestens

30.000,00 DM.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat sich wiederum auf den Abfindungsvergleich berufen, zumal auch die nunmehr eingetretenen weiteren Folgen im Hinblick auf das Gutachten K nicht unvorsehbar gewesen seien. Im übrigen würden sie auch von der Klägerin, insbesondere hinsichtlich der Einschränkung ihrer hausfraulichen Tätigkeit, überzeichnet.

3.Das Landgericht hat zum gegenwärtigen Gebrauchszustand der Hände der Klägerin, zu der nach dem 28.04.1993 eingetretenen Verschlechterung und zum künftigen Verlauf ein Sachverständigengutachten eingeholt sowie desweiteren auch dazu, ob die Entwicklung ab 28.04.1993 zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses in 10/1962 aus medizinischer Sicht vorhersehbar war, ggf. mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad, oder aber außergewöhnlich unwahrscheinlich und vom medizinischen Erfahrungswissen nicht erfaßt (Bl. 379). Wegen des Ergebnisses wird auf das vom Sachverständigen P erstattete Gutachten vom 03.03.1998 verwiesen (Bl. 392 ff).

Durch das angefochtene Urteil, auf das wegen weiterer Einzelheiten verwiesen wird, hat das Landgericht alsdann den Klaganträgen in vollem Umfange stattgegeben, insoweit ein Schmerzensgeld von 50.000,00 DM zuerkannt, und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin könne gem. §§ 823 Abs. 1, 847 Abs. 1 und 242 BGB (weiteren) Ersatz des ihr ab 05/1993 entstandenen materiellen und immateriellen Schadens verlangen. Von da an stelle sich nämlich das Festhalten an der Abfindungsvereinbarung als unzulässige Rechtsausübung dar; denn wegen der ab 05/1993 eingetretenen nachhaltigen Verschlechterung des Zustands ihrer Hände, die in 10/1962 – dem Gutachten P – zufolge nicht einmal objektiv und erst recht nicht für die Klägerin bzw. ihre Mutter subjektiv voraussehbar gewesen sei, ergebe sich nunmehr ein krasses Mißverhältnis zwischen Schaden und Abfindung. Als Ausgleich für die Beeinträchtigung ihrer hausfraulichen Tätigkeiten könne die Klägerin ohne weiteres monatlich 1.400,00 DM beanspruchen. Ihr stehe auch ein Schmerzensgeld zu, das in Ansehung der ab 05/1993 eingetretenen gravierenden Verschlechterung, der verschiedenen stationären Behandlungen, andauernden erheblichen Schmerzen und psychischen Belastungen, insbesondere durch das Risiko einer völligen Amputation ihrer Hände und infolge ihrer Hilfsbedürftigkeit auch bei alltäglichen Verrichtungen im Haushalt, auf 50.000,00 DM zu bemessen sei.

4.Mit ihrer Berufung trägt die Beklagte auf die vollständige Abweisung der Klage an:

Demdeliktischen Schadensersatzanspruchstehe – mitdem Senatsurteil vom26.05.1997 – dieEinrede derVerjährung(§§ 852Abs. 1,222 Abs. 1 BGB) entgegen.Die Klägerinhabe nämlich,worauf schon das (Anwalts-)Schreiben vom 19.01.1973 hindeute, 1977 und spätestens 1978 alle Veranlassung gehabt, von einem fortschreitenden Verschlechterungsprozeß auszugehen. Von der Einrede unberührt sei freilich ein Anspruch aus positiver Vertragsverletzung, für den jedoch in Frage stehe, ob die Strahlenschäden bei der Klägerin überhaupt auf eine Überdosis an Röntgenbestrahlung zurückzuführen seien.

Jedenfalls verbleibe es aber bei der in 10/1962 getroffenen Abfindungsregelung. Sie sei, wie die vorangegangene Korrespondenz zwischen den Parteien ergebe, bewußt umfassend formuliert im Sinne einer totalen Risikoübernahme für alle erdenklichen, selbst auch unerwarteten Zukunftsschäden. Die Rechtsprechung zur unzulässigen Rechtsausübung sei nicht einschlägig. Der Verlauf, wie im Gutachten P beschrieben, liege nämlich im Trend dessen, was von Seiten der Klägerin, fachärztlich beraten und von ihr teilweise schon selbst erlebt, vorausgesehen worden sei. Die Annahme im Gutachten P und des Landgerichts, das Entwicklungsbild der Hände ab 05/1993 sei zur Zeit des Vergleichsabschlusses in 10/1962 nicht einmal in etwa voraussehbar gewesen, sei nicht zutreffend. Das Gegenteil ergebe sich aus dem Gutachten K, auch der dem Vergleich vorangegangenen Korrespondenz und auch dem Gutachten H. Sogar nach dem Gutachten P habe die Negativ-Entwicklung 1962 nur „noch nicht genau erfaßt werden können“. Im übrigen seien Anfang der 60er Jahre auch nicht bloß Narbenkarzinome als Schadensfolgen von Strahlungsschäden bekannt gewesen.

Die Klägerin tritt der Berufung mit dem Antrag auf Zurückweisung entgegen:

Die Einrede der Verjährung (§§ 852 Abs. 1, 222 Abs. 1 BGB) sei nicht begründet. 1977/78 seien die nach 1993 eingetretenen Schadensfolgen noch nicht zu erkennen gewesen. Das sei selbst 1987 noch nicht möglich gewesen; denn nach dem Arztbericht der Diakonissenanstalt vom 25.06.1987 (Bl. 35) habe der Dauerschaden in einer Versteifung sämtlicher Fingermittelgelenke und einer Minusvariante beider Hände bestanden. Folglich sei die später erforderlich gewordenen Amputation von Fingern noch nicht voraussehbar gewesen. Andererseits sei zum Haftungsgrund die erfolgte Fehlbehandlung der Klägerin nach dem Urteil des Landgerichts unstreitig. Zudem liege insoweit ausweislich der vorprozessualen Korrespondenz ein deklaratorisches Schuldanerkenntnis vor, indem die Beklagte lediglich Einwendungen gegenüber der Höhe, nicht aber gegen den Grund ihrer Haftung erhoben habe. Im übrigen sei seinerzeit auch keine Aufklärung über die Gefahren der Strahlentherapie erfolgt.

Gegenüber dem Abfindungsvergleich werde am Einwand der Unwirksamkeit mangels Mitwirkung des Vaters festgehalten. Jedenfalls sei aber seit 05/1993 die Opfergrenze überschritten. Die Berechnungsgrundlage für den Abfindungsvergleich sei aus den vorangegangenen Schreiben vom 28.08. und 02.10.1962 ersichtlich (Bl. 64 f; Anl. Bl. 101 f). Demzufolge sei sie – die Klägerin – keineswegs davon ausgegangen, daß sie Jahrzehnte unter starken Schmerzen und Hautaufbrüchen leiden würde, ständig Schmerzmittel und Antibiotika würde einnehmen müssen und Jahre später nach der Abnahme von Fingern nur noch eine Restfunktion der Hände verbleiben würde. Zwischen Abfindung und Schaden ergebe sich ein krasses Mißverhältnis wegen der unvorhersehbaren Folgen. 1959/1961 sei es nach Annahme der Parteien lediglich um einen kosmetischen Schaden gegangen. Das Gutachten K besage im wesentlichen nichts anderes. Auch das Gutachten P habe Knochenschäden, wie später entdeckt, nicht vorhergesehen, erst recht nicht die schwerwiegenden Folgen, wie im Gutachten P festgestellt. 1962 sei es gänzlich unbekannt gewesen, daß Strahlenschäden Folgen bis zu einer notwendigen Amputation von Fingern würden haben können.

Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze verwiesen, auf die sie sich in der mündlichen Verhandlung bezogen haben.

Der Senat hat zu gerichtlichem Protokoll vom 22.03.2000 die Klägerin gem. § 141 ZPO persönlich angehört und den Sachverständigen sein schriftliches Gutachten erläutern und ergänzen lassen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist nur teilweise begründet. Die Klägerin hat zwar Anspruch auf weiteren Schadensersatz, aber nicht in dem vom Landgericht zuerkannten Umfange.

I.Der in 10/1962 geschlossene Abfindungsvergleich steht einer Nachforde- rung der Klägerin im Ergebnis nicht entgegen.

1.Der Abfindungsvergleich ermangelt freilich nicht deshalb der Wirksamkeit, weil daran der Vater der – damals noch minderjährigen – Klägerin nicht mitgewirkt hat. Diese Auffassung hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 26.05.1993 vertreten. Es ist freilich insoweit, da es sich (bloß) um die Beurteilung eines vorgreiflichen Rechtsverhältnisses handelte, nicht in Rechtskraft erwachsen.

Die Ehe der Eltern der Klägerin war durch Urteil des Landgerichts Chemnitz (I R 144/44) seit dem 02.07.1946 rechtskräftig geschieden worden (vgl. Bl. 80), und zwar demnach auf der Grundlage des EheG 1946 (= KRG Nr. 16: in Kraft seit 01.03.1946), ohne daß jedoch eine Sorgerechtsregelung gem. § 74 EheG getroffen worden ist. Somit galt bis Abschluß des Abfindungsvergleichs an sich der Grundsatz der Gesamtvertretung durch beide Eltern (seit BVerfG NJW 1959, 1483). Er steht gleichwohl der Wirksamkeit des Vergleichs im Ergebnis nicht entgegen:

Es istzunächst schonden Umständennach anzunehmen,daß die Mutter gem.§ 1678 Abs. 1 BGB a. F.Alleininhaberin derelterlichen Sorge warwegen tatsächlicherVerhinderung desVaters. DieMutter lebte nämlich seitKriegsende mitder Klägerinin Flensburg,während der Vater in dersowjetischen Besatzungszone(ab 1949: DDR)verblieben war. Dafür, daßdie Muttermit derKlägerin damalsnicht einmalKenntnis vom Aufenthalt des Vaters(in Schlößchen,Kreis Zschopau)hatte, sprichtdas (Anwalts-)Schreiben aus 09/1959 (Anl. Bl. 40) mit der Mitteilung, daß die Todeszeit des Vaters nach dem VerschG festgestellt worden sei.

Zudem hat nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin im Schriftsatz vom 01.11.1988 (Bl. 118), wonach ihre Mutter mit ihr kurze Zeit nach Abschluß des Vergleichs den Vater besucht und ihm darüber berichtet habe, dieser dessen Abschluß konkludent genehmigt (vgl. §§ 182 Abs. 1, 184 Abs. 1 BGB), selbst falls die Mutter ihn hinsichtlich eventueller Spätfolgen nicht zutreffend informiert haben sollte. Jedenfalls muß der Vater, da er die Klägerin seit der Trennung der Eltern in der Obhut der Mutter wußte und es hingenommen hat, daß sie allein seit Kriegsende die insoweit erforderlichen Entscheidungen getroffen hat, diese nach dem Grundsatz der Duldungsvollmacht gegen sich gelten lassen, auch wenn er keinen Willen zur Bevollmächtigung gehabt hat (vgl. Palandt/Heinrichs, BGB, 59. Aufl., § 173 Rn 9 ff und Palandt/Diederichsen, a. a. O., § 1629 Rn 10).

2.a)In dem 1962 zustande gekommenen Abfindungsvergleich haben die Klägerin und ihre Mutter „gegen eine einmalige Entschädigung von 25.000,00 DM … auf alle Ansprüche jeder Art …, selbst wenn sich künftig andere, unerwartete, als bis jetzt bekannte Folgen ergeben sollten …“, verzichtet. Seinem Wortlaut nach hat der Verzicht somit eine umfassende Tragweite und steht jeder Nachforderung entgegen. Das wird durch das (Anwalts-)Schreiben vom 05.10.1962, mit dem der – von der Gegenseite dann akzeptierte – Abfindungsvorschlag seitens der Klägerin übermittelt worden ist, unterstrichen, indem es dort heißt: Die Mutter wie auch die Klägerin „möchten aber unter allen Umständen die Angelegenheit jetzt zu Ende bringen“ und mit dem – zugleich übermittelten – Abfindungsvorschlag die Schadensersatzsache erledigen. Demnach sollte der Schadensfall mit der Abfindung endgültig erledigt und weitere Ansprüche, auch wegen unvorhergesehener Schäden, sollten ausgeschlossen sein.

Für eine restriktive Auslegung, wie sie die Rechtsprechung bei unerwarteten Spätschäden früher gelegentlich befolgt hat (vgl. Staudinger/Marburger, 13. Aufl., § 779 Rn 59 m. Nachw.), ist wegen des klar und unzweideutig erklärten Verzichts kein Raum. Zwar standen bei der Klägerin – so: ihre Berufungserwiderung – in den (Anwalts-)Schreiben vom 28.08. und 02.10.1962, die dem Vergleichsabschluß vorausgingen, und sogar noch in dem Schreiben vom 05.10.1962 (bloß) Mehrkosten aus Hautproblemen der Hände im Vordergrund. Aber die in den Vorjahren durchgeführten Untersuchungen hatten der Klägerin und ihrer Mutter ein viel weiterreichendes Risikobewußtsein vermittelt, wie die seinerzeitige Korrespondenz auch belegt. So hatte schon die Begutachtung P in 11/1958 u. a. sklerosierende Prozesse im Unterhautbindegewebe und im Sehnen- und Bänderapparat der Handgelenkstreckseiten festgestellt und die bereits ein Jahr nach der Röntgenstrahlenapplikation aufgetretenen schweren Veränderungen erst als Beginn einer langsam fortschreitenden Strahlenschädigung bezeichnet. Und nach dem Gutachten K (aus 10/1961) war eine Verbesserung der eingetretenen Schädigung (rechts: kein Faustschluß; links: abstehender versteifter Zeigefinger) durch konservative Maßnahmen nicht zu erwarten, eine Verschlechterung hingegen möglich und die Ausbildung eines Strahlenkrebses zwar unwahrscheinlich, wenn auch nicht völlig ausgeschlossen.

Andererseits verdeutlicht auch die Höhe der „einmaligen“ Entschädigung, daß damit der Schaden abschließend erledigt werden sollte. Sie belief sich nämlich unter Einbeziehung der bereits 1959 gezahlten 5.000,00 DM insgesamt immerhin auf einen Betrag von 30.000,00 DM, der bezogen auf den Preisindex der alten Bundesländer (vgl. Palandt/Brudermöller, a. a. O., § 1376 Rn 19) nach heutigen Verhältnissen knapp 100.000,00 DM entspricht. Damit enthielt er offensichtlich einen erheblichen Risikozuschlag für unerwartete Spätschäden. Deshalb scheidet grundsätzlich auch ein Rückgriff auf die Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage aus, weil er sich über die im Vergleich vereinbarte Risikoverteilung hinwegsetzen würde. Fallen eingetretene Veränderungen in den Risikobereich, für den der Geschädigte sich als abgefunden erklärt hat, muß dieser grundsätzlich auch bei erheblichen Opfern, die sich später herausstellen, die Folgen tragen (vgl. BGH NJW 1984, 115, 116 und 1991, 1535). Verwirklichen sich zudem Risiken, die in die Abfindungserklärung einbezogen waren und Inhalt des Vergleichs geworden sind, waren sie auch nicht dessen Geschäftsgrundlage (vgl. MünchKo/Pecher, BGB, 3. Aufl., § 779 Rn 47).

b)Das Festhalten an einer eindeutigen Abfindungserklärung kann allerdings nach der Rechtsprechung dem Einwand der unzulässigen Rechtsausübung ausgesetzt sein. Er setzt voraus, daß sich aus dem Eintreten nicht vorausgesehener Spätfolgen zwischen Schaden und der Vergleichssumme ein so krasses Mißverhältnis ergibt, daß es für den Geschädigten eine außergewöhnliche und unzumutbare Härte bedeuten würde, wenn ihm Nachforderungsansprüche versagt blieben. Andererseits verstieße der Schädiger, wenn er gleichwohl an den Vergleich festhalten wollte, gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB), indem er sich rücksichtslos und grob unbillig über die Belange der Gegenseite hinwegsetzen würde (vgl. BGH VersR 1961, 382, 383; 1966, 243 f und 1967, 804, 805; auch NJW 1991, 1535 sowie Staudinger/Marburger, a. a. O., § 779 Rn 59). Diese Rechtsprechung kommt der Klägerin zustatten.

Die Voraussetzung, daß nicht vorausgesehene bzw. unvorhergesehene Spätfolgen eingetreten sind, ist auf Seiten der Klägerin ab 1993 infolge einer fortschreitenden gravierenden Verschlechterung des Zustands ihrer Hände erfüllt. Insoweit ist klarzustellen, daß es nicht um den Eintritt „unvorhersehbarer Folgen“ geht (so jedoch Palandt/Heinrichs, a. a. O., § 242 Rn 153), also um Folgen, die von niemandem, insbesondere also auch nicht dem einschlägigen Spezialisten haben vorausgesehen werden können. Deshalb bedarf es auch nicht – entgegen der Auffassung der Berufung – der Hinzuziehung eines strahlenmedizinischen Sachverständigen. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, ob die Parteien des Abfindungsvergleichs die eingetretenen Spätfolgen vorausgesehen haben oder zumindest den Umständen nach hätten in Betracht ziehen müssen. Die Beurteilung jenes Kriteriums erfolgt nämlich nicht rein empirisch, sondern nach den maßgeblichem normativen Standard verständiger und redlicher Vertragspartner.

Demnach ist für die Frage nicht vorausgesehener Spätfolgen in erster Linie darauf abzuheben, welche Risiken den Parteien des Abfindungsvergleichs zuvor von den herangezogenen herausragenden Fachärzten, also durch die Begutachtung P und das Gutachten K, vermittelt worden sind. Ersterer hatte insbesondere auf sklerosierende Prozesse im Unterhautbindegewebe sowie im Sehnen- und Bänderapparat hingewiesen und sie als Beginn einer langsam fortschreitenden Strahlenschädigung bezeichnet. Das wurde – nach dem Anwaltsschreiben vom 07.09.1960 (Anl. Bl. 49 f) – durch die bereits damals eingetretene Verschlimmerung bestätigt, als deren Folge dann schon 1961 die rechte Faust nicht geschlossen werden konnte und der linke Zeigefinger wegen Versteifung abstand. Insoweit hat dann das Gutachten K eine Besserung ausgeschlossen, hingegen eine Verschlechterung als möglich angesehen und dabei nicht einmal das Risiko eines Strahlenkrebses (der Haut) völlig auszuschließen vermocht.

Im Hinblick auf jene seinerzeit aufgezeigten Risiken waren die bereits erheblichen Verschlechterungen des Sehnen-, Gelenk- und Knochenapparats der Hände, die bis zum Senatsurteil vom 26.05.1993 festgestellt und behandelt worden sind, noch nicht als unvorhergesehen zu erachten. Dabei handelte es sich 1977 um spitzwinklige Beugekontrakturen in den Mittelgelenken der Finger II bis IV beidseits und die Versteifung eines Fingers rechts, 1985 dann um die Versteifung der Mittelgelenke von zwei weiteren Fingern rechts. – Demgegenüber waren bereits bis 09/1993 gravierende zusätzliche Schäden eingetreten, wie sie im Aufnahmebefund vom 27.09.1993 im Gutachten P (Bl. 395) aufgeführt sind. Es schlossen sich dann – abgesehen von der ständigen ambulanten Versorgung durch den Hausarzt – zehn jeweils mehrwöchige stationäre Behandlungen an mit ausgedehnten Hauttransplantationen, der Resektion beider Zeigefinger mit Handverschmälerung und der Versteifung weiterer Finger, wobei wegen der Einzelheiten auf den Tatbestand (unter III. 1.) verwiesen wird. Insoweit veranschaulichen den Leidensweg der Klägerin, deren Hände nur noch Restfunktionen wahrzunehmen vermögen, die (vorläufig) zur Akte genommenen Diafilme des Sachverständigen P (bis 09/1996: vgl. Bd. III Dehntasche). Derart gravierende Spätschäden haben die Parteien bei Abschluß des Abfindungsvergleichs in 10/1962 keineswegs vorausgesehen oder aufgrund der ihnen von Fachleuten aufgezeigten Risiken jedenfalls in Betracht ziehen müssen.

InfolgejenergravierendenSpätschäden hatsich zwischendem (Gesamt-)Schaden und der seinerzeit erlegten Vergleichssumme ein so krasses Mißverhältnis ergeben, daß ein Versagen von Nachforderungsansprüchen für die Klägerin eine unzumutbare Härte bedeuten würde. Ein derartiges Mißverhältnis ist trotz des seinerzeit sehr ansehnlichen Betrags von 30.000,00 DM anzunehmen, der nach heutigem Maßstab knapp 100.000,00 DM entsprechen würde. Dafür, daß er letztlich als ganz unzureichend zu erachten ist, sind vor allem zwei Umstände maßgebend. Zum einen hat er nicht nur als Schmerzensgeld eine jahrzehntelange zunehmend nachhaltige Behinderung der Klägerin und spätestens ab 1993 Jahre gravierenden Leidens auszugleichen, sondern desweiteren auch ihren materiellen Schaden, im letzten Jahrzehnt vor allem in Gestalt eines weitgehenden Ausfalls ihrer häuslichen Arbeitsleistung, zu entgelten. Allein insoweit errechnet sich auf der Grundlage ihres eigenen und vom Landgericht gebilligten Ansatzes in Anbetracht ihres Lebensalters ohne weiteres eine (hochgerechnete) Schadenssumme von ca. 500.000,00 DM.

II. Die von der Klägerin – nach teilweiser Klagrücknahme – weiterverfolgten und ihr vom Landgericht zuerkannten Nachforderungsansprüche sind gleichwohl nur in begrenztem Umfange begründet.

1.a)Die Klägerin beansprucht ab 05/1993 außer einem Schmerzensgeld Ersatz ihres materiellen Schadens wegen weitgehenden Ausfalls ihrer häuslichen Arbeitsleistung. Dem Grunde nach sind die Ansprüche gerechtfertigt, weil die Beklagte gem. §§ 847 Abs. 1, 831 Abs. 1 (bzw. § 31) BGB sowie aus positiver Vertragsverletzung i. V. m. § 278 BGB (§ 368 d Abs. 4 RVO) dafür einzustehen hat, daß die Hände der Klägerin 1957 mit viel zu starken Dosen an Röntgenstrahlen behandelt worden sind. Daß darauf die Verbrennungen und nachfolgenden gravierenden Schäden zurückzuführen sind, hat – entgegen der Infragestellung durch die Berufung – nach der Begutachtung P vor allem das Gutachten K (vgl. Bl. 27 f) ergeben. Für einen derartigen unzweifelhaften Zusammenhang haben sich auch die Ärzte der Diakonissenanstalt Flensburg in ihrer Stellungnahme vom 25.06.1987 ausgesprochen (Bl. 35). Damit stimmt schließlich auch das Gutachten P (Bl. 408 f) überein. Insoweit war im übrigen dem Antrag der Berufung, erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat angebracht, wegen der engen Verbindung des Sachverständigen zur Klägerin aufgrund ihrer langjährigen Behandlung einen weiteren Sachverständigen zu beauftragen, gem. § 406 Abs. 2 S. 2 ZPO nicht stattzugeben. Zudem ist der Sachverständige, dessen spezielle Fachkunde und umfassende Erfahrungen sich für den Senat bei wiederholter Zusammenarbeit bestätigt haben, seiner Verpflichtung zur Unparteilichkeit (§ 410 Abs. 1 ZPO) voll nachgekommen, wie sein Gutachten allenthalben belegt.

Daß bei der Bestrahlung der Hände der Klägerin Behandlungsfehler unterlaufen sind, für die die Beklagte einzustehen hat, war zwischen den Parteien von Anbeginn an ausweislich der damaligen Korrespondenz unstreitig. Gleichwohl stellt die Berufung in Frage, ob die Schäden der Klägerin überhaupt auf eine Überdosis an Bestrahlung zurückzuführen sind. Diesem Vorbringen ist jedoch aus einem zusätzlichen Grunde nicht weiter nachzugehen; denn sowohl der Zwischenvergleich von 1959 wie auch der Abfindungsvergleich von 1962 beinhalten ein deklaratorisches Schuldanerkenntnis, so daß die Beklagte mit dem Einwand ihrer fehlenden Haftung dem Grunde nach ausgeschlossen ist (vgl. Palandt/Sprau, a. a. O., § 780 Rn 4 f).

b)Dem eingeklagten Schmerzensgeld (§ 847 Abs. 1 BGB) steht die erhobene Einrede der Verjährung (§ 222 Abs. 1 BGB) nicht entgegen. Zwar verjährt der Anspruch gem. § 852 Abs. 1 BGB in drei Jahren von dem Zeitpunkt an, in welchem der Verletzte von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erlangt hat, ohne Rücksicht auf diese Kenntnis in 30 Jahren von der Begehung der Handlung an. Diese Voraussetzungen sind aber für die ab 1993 eingetretenen Spätschäden nicht erfüllt.

Bei späteren Schadensfolgen, die wie hier durch eine bereits 1957 abgeschlossene Handlung verursacht worden sind, beginnt die Verjährungsfrist für nachträgliche Verschlimmerungen, wenn sie im Zeitpunkt der Kenntnis vom Schaden schon als möglich erscheinen, bereits mit diesem Zeitpunkt (vgl. BGH WM 1978, 331, 332). Danach begann, da aufgrund der 1958 bis 1961 getroffenen Feststellungen und erfolgten Begutachtungen die bis zum Erlaß des Senatsurteils vom 26.05.1993 nachträglich eingetretenen Schadensfolgen schon als möglich in Betracht zu ziehen waren, für sie grundsätzlich bereits damals die Verjährungsfrist.

Das gilt aber nicht für die gravierenden Spätschäden, die sich ab 1993 verwirklicht haben. Sie waren von der allgemeinen Schadenskenntnis nicht umfaßt und selbst für Fachleute nicht voraussehbar, wie die Begutachtung P und das Gutachten K belegen. Das wird auch durch das Gutachten P bestätigt, wonach damals die Schäden der tieferen Strukturen, wie Sehnen, Gelenke und Knochen, noch nicht vorhanden waren bzw. vom damaligen medizinischen Erfahrungswissen auch noch nicht richtig eingeschätzt werden konnten (vgl. Bl. 408 f, auch Bl. 535 f). – Andererseits muß die in § 852 Abs. 1 BGB vorausgesetzte Kenntnis nach der Rechtsprechung zudem so weit gehen, daß dem Geschädigten die Erhebung zumindest einer Feststellungsklage zuzumuten ist. Diese Voraussetzung war jedoch in Anbetracht der strengen Erfordernisse für eine Nachforderungsklage nach einem Abfindungsvergleich erst ab 1993 erfüllt, als seiner Geltendmachung der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegenstand (vgl. BGH VersR 1966, 243, 245).

Im übrigen kommt auch die 30jährige Verjährung der Beklagten nicht zustatten, weil sie wiederholt unterbrochen worden ist mit der Wirkung des Neubeginns (§ 217 BGB). Das erfolgte zunächst durch ein Anerkenntnis in Gestalt des Abfindungsvergleichs (§ 208 BGB) und hernach durch Klagerhebung in 12/1987 (§ 209 Abs. 1 BGB).

2.a)Die erhobenen Nachforderungen hat das angefochtene Urteil der Klägerin in begehrter Höhe zugesprochen, wobei es hinsichtlich des Schmerzensgeldes über die Mindestvorstellung hinausgegangen ist. Dabei hat das Landgericht den zuerkannten Schadensersatz ohne jede Berücksichtigung des 1962 geschlossenen Abfindungsvergleichs derart bemessen, als wenn erstmalig über die Ansprüche zu befinden wäre. Dem vermag sich der Senat nicht anzuschließen.

Bei der Entscheidung zur berechtigten Höhe der Nachforderung ist vielmehr zum einen zu berücksichtigen, daß aufgrund des Abfindungsvergleichs bereits Schadensersatz in immerhin beträchtlicher Höhe geleistet worden ist. Er kann nicht einfach nur auf die Zeitvor Eintrittder gravierenden nicht vorausgesehenen Spätfolgen verrechnet werden, sondern gleicht auch weiterhin jene Beschwerden und Beeinträchtigungen, auch materieller Art, aus, welche die Parteien bei Abschluß des Vergleichs vorausgesehen haben oder die sie den Umständen nach jedenfalls hätten in Betracht ziehen müssen. Und zum anderen wäre der Übergang zu einem Schadensersatz in vollem Umfange auch deshalb nicht wertungsgerecht, weil der Geltendmachung des Abfindungsvergleichs der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung nur insoweit entgegensteht, als sich anderenfalls zwischen Vergleichssumme und Schaden wegen des Eintritts der nicht vorausgesehenen Spätfolgen ein krasses Mißverhältnis ergeben würde. Nur zwecks dessen Vermeidung ist ein weiterer Ausgleich geboten, woraus für die berechtigte Höhe der Nachforderung eine weitere Einschränkung folgt.

b)Bei der Bemessung der Nachforderung sind nur solche nicht vorausgesehenen Spätfolgen zu berücksichtigen, die bereits tatsächlich eingetreten sind. Anders als bei einer vergleichsweisen Regelung können noch nicht verwirklichte Risiken nicht einbezogen werden. Deshalb hat auch der vom Sachverständigen P als „höheres Risiko“ bezeichnete Umstand, daß einer erneut auftretenden (Prä-)Karzinomgefahr durch zusätzliche Transplantationen oder sogar weitere Amputationen begegnet werden muß (vgl. Bl. 534), außer Betracht zu bleiben. Allerdings stellt die starke psychische Belastung der Klägerin durch die Ungewißheit der weiteren Entwicklung für das Schmerzensgeld einen zusätzlichen Faktor dar.

In dem Abfindungsvergleich haben die Parteien seinerzeit den materiellen und immateriellen Schadensersatzanspruch pauschal durch eine Zahlung von insgesamt 30.000,00 DM erledigt. Für eine nachträgliche Aufteilung fehlt es an jedweden Anhaltspunkten und einschlägigem Vortrag. Somit liegt es in der Sachlogik der seinerzeit getroffenen Vereinbarung, zur Abwendung eines krassen Mißverhältnisses zwischen Abfindungsleistung und tatsächlich eingetretenem Schaden als Nachforderung wiederum einen pauschalen Betrag zuzuerkennen. Dafür spricht auch, daß es rechnerisch mehr als fragwürdig erscheinen müßte, nunmehr zunächst gesondert Ansprüche auf ein Schmerzensgeld und wegen des Haushaltsführungsschaden im vollem Umfange auszuwerfen, um sie dann wiederum in doppelter Hinsicht, wie zuvor unter 2. a) aufgezeigt, einzuschränken, nämlich zum einen wegen eines bereits „abgegoltenen Sockelbetrags“ und zum anderen wegen der gebotenen Begrenzung nach oben.

Diese Erwägungen sind ausschlaggebend dafür, daß der Senat in Ausübung des ihm gem. § 287 ZPO eingeräumten Schätzungsermessens der Klägerin zur Abwendung jenes krassen Mißverhältnisses wegen ihrer unvorhergesehenen gravierenden immateriellen und materiellen Spätschäden eine pauschale Nachforderung zuerkennt auf insgesamt

125.000,00 DM. Dazu kommen gem. § 291 BGB Prozeßzinsen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 und 269 Abs. ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO und die Festsetzung der Beschwer auf § 546 Abs. 2 ZPO.

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