Tinnitus als Unfallfolge löst Leistungspflicht der Unfallversicherung aus
Oberlandesgericht Koblenz
Aktenzeichen 10 U 1406/03
Urteil vom 08.07.2005
Vorinstanz: Landgericht Koblenz 4 O 175/01
Leitsätze:
Ein Tinnitus kann entschädigungspflichtige Unfallfolge sein. Er kann im Gefolge eines Knalltraumas durch eine Schädigung der Haarzellen des Innenohrs und eine dadurch bedingte Veränderung der Hörwahrnehmung und -verarbeitung entstanden sein. Hierin ist eine „durch den Unfall verursachte organische Erkrankung des Nervensystems“ im Sinn von § 10 Nr. 5 AUB 61 zu sehen. Sofern dem Versicherer nicht der Nachweis des Ausschlusses eines derartigen möglichen Ursachenzusammenhangs gelingt, ist er für eine durch den Tinnitus bedingte Invalidität leistungspflichtig.
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In dem Rechtsstreit hat der 10. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Koblenz auf die mündliche Verhandlung vom 17. Juni 2005 für R e c h t erkannt:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz vom 22. Oktober 2003 abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger aus der zwischen den Parteien bestehenden Unfallversicherung für das Unfallereignis vom 18.3.1999 Versicherungsschutz zu gewähren.
Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.
G r ü n d e :
Der Kläger unterhält bei der Beklagten eine Unfallversicherung, mit der auch die AUB/S….. (GA 24 R – 27) vereinbart wurden, und begehrt die Feststellung der Leistungspflicht der Beklagten hieraus.
Am 15.7.1999 zeigte der Kläger der Beklagten einen am 18.3.1999 erlittenen Unfall an (GA 32) und legte der Beklagten eine ärztliche Feststellung vorn 16.7.1999 (GA 32 R) vor, nach der er bei dem Unfallereignis ein beidseitiges Knalltrauma mit persistierendem Tinnitus und rezidivierendem Schwindelgefühl erlitten habe.
Der Kläger hat vorgetragen,
er habe am 18.3.1999 einen Traktorreifen aufgepumpt, wobei dieser geplatzt sei. Danach seien bei ihm ein starker Tinnitus und eine Schwerhörigkeit im linken Ohr aufgetreten. Außerdem leide er seither erheblich unter Schwindel.
Der Kläger hat beantragt,
festzustellen, dass die Beklagte dazu verpflichtet ist, ihm aus der zwischen den Parteien bestehenden Unfallversicherung für das Unfallereignis vom 18.3.1999 Versicherungsschutz zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat das Unfallereignis und dessen vom Kläger behauptete Folgen bestritten und sich bezüglich des Tinnitus auf den Ausschlusstatbestand des § 10 Nr. 5 ihrer AUB berufen.
Das Landgericht hat nach Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens des Privatdozenten Dr. S……. vom 31.1.2003 (GA 85) die Klage abgewiesen. Nach den überzeugenden gutachterlichen Ausführungen lägen bei dem Kläger weder Gleichgewichtsstörungen noch eine relevante Schwerhörigkeit vor. Der von dem Kläger behauptete Tinnitus und die möglicherweise daraus resultierenden Beeinträchtigungen seien gemäß § 10 Nr. 5 AUB ausgeschlossen, da eine organische Erkrankung des Nervensystems als Voraussetzung für die Berücksichtigungsfähigkeit des Tinnitus nicht vorliege.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner form- und fristgerecht eingelegten Berufung, mit der er im Wesentlichen geltend macht, nach dem Sachverständigen-gutachten liege eine beginnende Schwerhörigkeit mit einem lnvaliditätsgrad von 0 bis 3 % vor. Der unstreitig unfallbedingte Tinnitus beruhe auf einer \/erletzung der äußeren Haarzellen und somit auf einer Verletzung des Nervensystems; die Aus-schlussklausel des § 10 Nr. 5 AUB greife daher nicht ein.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Landgerichts Koblenz vom 22.10.2003 festzustellen, dass die Beklagte dazu verpflichtet ist, ihm aus der zwischen den Parteien bestehenden Unfallversicherung für das Unfallereignis vom 18.3.1999 Versicherungsschutz zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das landgerichtliche Urteil, bestreitet eine Schädigung der Haarzellen und hält den Feststellungsantrag wegen der Möglichkeit einer Leistungsklage für unzulässig.
Der Senat hat Beweis erhoben nach Maßgabe des Beweisbeschlusses vom 9.7.2004 (GA 146) durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Privatdozent Dr. med. H…. vom 27.1.2005 (GA 157 – 188) sowie dessen ergänzende Stellungnahme vom 4.4.2005 (GA 199 – 200) Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Feststellungen im angegriffenen Urteil sowie auf den Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen (§ 540 Abs. 1 ZPO).
II.
Die zulässige Berufung ist begründet.
Die von dem Kläger erhobene Feststellungsklage zur Leistungsverpflichtung der Beklagten aus der bestehenden Unfallversicherung für die Folgen des Unfalls vom 18.3.1999 ist zulässig und begründet. Der Kläger hat in seiner Klageschrift (GA 4) deutlich gemacht, dass er als Leistung der Beklagten die Zahlung einer Invaliditätsentschädigung wegen unfallbedingter Schwerhörigkeit, Tinnitus und Schwindel begehrt. An der Feststellung dieser Verpflichtung der Beklagten besteht für den Kläger ein Rechtsschutzinteresse, zumal er im Hinblick auf die zwischen den Parteien auch streitige und noch nicht vollständig geklärte Höhe der zu zahlenden Versicherungsleistung nicht verpflichtet war und ist, eine Leistungsklage zu erheben.
Die Feststellungsklage ist begründet, da dem Kläger gemäß § 8 Nr. II der vereinbarte AUB ein Anspruch auf lnvaliditätsentschädigung für das Unfallereignis vom 18.3.1999 zusteht. Nach § 2 Nr. 1 der AUB liegt ein Unfall vor, wenn der Versicherte durch ein plötzlich von außen auf seinen Körper einwirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet. Gemäß § 2 Nr. 3 lit. b der AUB fallen indes nicht unter den Versicherungsschutz Erkrankungen infolge psychischer Einwirkung. Darüber hinaus besteht in § 10 Nr.5 der AUB eine Einschränkung der Leistungspflicht dahingehend, dass für die Folgen psychischer und nervöser Störungen, die im Anschluss an einen Unfall eintreten, eine Entschädigung nur gewährt wird, wenn und soweit diese Störungen auf eine durch den Unfall verursachte organische Erkrankung des Nervensystems oder eine durch den Unfall neu entstandene Epilepsie zurückzuführen sind. Da hier der von der Beklagten als psychische Störung gewertete Tinnitus infolge bzw. im Anschluss eines Unfalls aufgetreten ist, steht hier nicht die Frage des Ausschlusses des Versicherungsschutzes nach § 2 Nr. 3 lit. b der AUB, sondern die Einschränkung der Leistungspflicht nach § 10 Nr. 5 der AUB zur Entscheidung.
Der Kläger erlitt am 18.3.1999 einen Unfall. Das Platzen des Traktorreifens neben seinem Kopf war ursächlich für die dann zunächst bei ihm aufgetretenen Hörprobleme. Davon ist aufgrund der Feststellungen des erstinstanzlichen Sachverständigen Privatdozent Dr. S……. auszugehen, der die Hörprobleme des Klägers mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurückführte (S. 23 des Gutachtens vom 31.3.2003); gegen sie hat die Beklagte keine Einwendungen erhoben. Durch das Unfallereignis erlitt der Kläger ferner eine Gesundheitsschädigung in Form eines Tinnitus.
Zu Recht hat das Landgericht allerdings den von dem Kläger geltend gemachten Schwindel und die Schwerhörigkeit im linken Ohr nicht als unfallbedingte Gesundheitsschädigung des Klägers gewertet. Nach dem erstinstanzlichen Sachverständigengutachten des Privatdozent Dr. S……. bestand bei dem Kläger kein Schwindel mehr und die im linken Ohr festgestellte Schwerhörigkeit hatte nur eine minimale Höreinbuße zur Folge. Der nunmehr von dem Senat beauftragte Sachverständige Privatdozent Dr. H…. kam zu dem Ergebnis, dass sowohl die bei dem Kläger jetzt bestehende beidseitige ausgeprägte Schwerhörigkeit als auch die Schwindelsymptomatik nicht auf den Unfall zurückzuführen sind. Nach seinen nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen ist im Hinblick auf die ohne weitere Lärmeinflüsse deutlich verschlechterte Schwerhörigkeit des Klägers diese definitiv nicht als unfallbedingt zu werten (GA 166). Das von dem Kläger erlittene Trauma während der Explosion des Reifens könne im Nachhinein keine so extreme Hörverschlechterung, die subjektiv von dem Kläger in dieser Ausprägung noch nicht einmal bemerkt wurde, verursachen. Bezüglich der Schwindelsymptomatik konnte auch von ihm keine eindeutige otogene Ursache gefunden werden. Der Senat schließt sich den fachkundigen Ausführungen des Sachverständigen an mit der Folge, dass der Kläger den ihm obliegenden Beweis der Unfallursächlichkeit der geklagten Gesundheitsschädigungen Schwerhörigkeit und Schwindel nicht geführt hat.
Als im Sinne der Vertragsbedingungen zu berücksichtigende Gesundheitsschädigung stellt sich jedoch der bei dem Kläger nach dem Unfall aufgetretene Tinnitus dar. Dieser liegt nach den Feststellungen sowohl des erstinstanzlichen Sachverständigen Privatdozent Dr. S……. als auch des vom Senat beauftragten Sachverständi-gen Privatdozent Dr. H…. vor und ist nach den Ausführungen des letzteren Gutachters auch durch den Unfall des Klägers verursacht worden (GA 167). In welchem Umfang sich dadurch eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit (Invalidität) des Klägers ergibt, insbesondere, ob diese – wie von dem Sachverständigen Privatdozent Dr. H…. angenommen (GA 200) – mit 20 % zu bewerten ist, kann hierbei offen bleiben. Der Kläger begehrt lediglich die Feststellung der Leistungsverpflichtung der Beklagten dem Grunde nach; diese ergibt sich bereits daraus, dass von dem Sachverständigen jedenfalls eine mit über 0 % zu bewertende Invalidität durch den Tinnitus angenommen wird.
Die Leistungsverpflichtung der Beklagten im Hinblick auf den bei dem Kläger bestehenden Tinnitus ist auch nicht gemäß § 10. Nr.5 der AUB ausgeschlossen. Unter psychische und nervöse Störungen fallen nach der Rechtsprechung und dem Schrifttum Schäden infolge von Schock-, Schreck- und Angstreaktionen (BGH VersR 1972, 582; OLG Düsseldorf VersR 1964, 130; 1998, 886; Hinweisbeschluss des Senats vom 27.5.2004 – 10 U 1378/03 = ZfS 05, 32 – 33) bzw. psychische Beeinträchtigungen, die auf einer psychischen Fehlverarbeitung beruhen (BGH VersR 2004, 1039; 2003, 634; Thüringer Oberlandesgericht VersR 2002, 1019; Knappmann VersR 2002, 1230 f.; Prölss/Martin-Knappmann, VVG Kommentar, 27. Aufl. 2004, AUB 61 § 10 Rdnr. 5 unter Bezug auf AUB 94 § 2 Rdnr. 41; Rixecker ZfS 2003,. 304; Schwintowski, NVersZ 2002, 395; Wussow, VersR 2000, 1183). Diese Fehlverarbeitung muss ihrerseits Krankheitswert haben und nicht adäquat kausal auf einem organischen Schaden beruhen (Prölss/Martin-Knappmann, a.a.0. unter Hinweis auf OLG Koblenz VersR 2001, 1550 = NVersZ 2002, 17 auch zu somatoformen Schmerzstörungen; ferner OLG Koblenz, OLGReport 2001, 467 zur Frage der Beweisführung). Der Versicherer ist für den Ausschluss bzw. die Einschränkung der Leistungspflicht beweispflichtig. Er muss darlegen und beweisen, dass eine organische Erkrankung ausgeschlossen ist (Prölss/Martin-Knappmann a.a.0, AUB 61 § 10 Rdnr. 5; BGH VersR 1995, 1433). Diesen Beweis hat die Beklagte nicht erbracht. Krankhafte Störungen, die eine organische Erkrankung des Nervensystems als Ursache haben, sind nicht vom Versicherungsschutz ausgeschlossen, auch wenn im Einzelfall das Ausmaß, in dem sich die organische Ursache auswirkt, von der psychischen Verarbeitung durch den Versicherungsnehmer abhängt.
Der Sachverständige Privatdozent Dr. H…. hat in seinem Gutachten ausgeführt, die bei dem Unfall aufgetretene extrem starke Lärmbelastung habe – in Übereinstimmung mit dem erstinstanzlichen Sachverständigen Privatdozent Dr. S……. – zu einem Innenohrhochtonverlust links mehr als rechts geführt. In diesem Frequenzbereich habe er den von dem Kläger berichteten Tinnitus tonschwellenaudiometrisch bestimmt. Die Entstehung des Tinnitus bei 6000 Hz sei somit durch den Unfall glaubhaft bestätigt (GA 167). Ein Nachweis von Distorsionsprodukten otoakustischer Emissionen sei nicht möglich, was für einen Haarzellschaden des Innenohres im Bereich der äußeren Haarzellen spreche. Ein Haarzellschaden bedinge zwar nicht immer einen Tinnitus und ein Leiden an Ohrgeräuschen. Tinnitus beruhe auf einer Störung in der Hörwahrnehmung und –verarbeitung. Ein primärer Haarzellschaden könne wie bei dem Kläger jedoch zu einer veränderten Hörwahrnehmung führen und einen Tinnitus hervorrufen. Der bei dem Kläger bestehende Tinnitus sei unfallbedingt, da dieser glaubhaft erstmals nach dem Unfall auftreten sei und auch im Hochtonbereich nachgewiesen wurde, was typisch für einen Lärmschaden bzw. ein Knalltrauma sei, Aus diesem Lärmtrauma erkläre sich auch der bestehende Haarzellschaden im Bereich der äußeren Haarzellen (GA 200).
Nach diesen in sich widerspruchsfreien, nachvollziehbaren und von Fachkunde geprägten gutachterlichen Ausführungen, denen sich der Senat anschließt, hat der Tinnitus eine organische, durch den Unfall hervorgerufene Erkrankung des Nervensystems als Ursache. Der Sachverständige hat eine knalltraumatische Schädigung der Haarzellen im Innenohr bejaht, die zu Ohrgeräuschen führt. Die Parteien haben hiergegen auch keine Einwendungen mehr erhoben. Damit hat die Beklagte den ihr als \/ersicherer obliegenden Nachweis nicht erbracht, dass der krankhafte Zustand des Klägers nicht in einer organischen – wenngleich psychische Folgen auslösenden – Erkrankung des Nervensystems seine Ursache hat.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision wird nicht zugelassen, da die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorliegen, § 543 ZPO.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 25.564,59 € festgesetzt.